„Wenn du für ELGA bist, bist du ein Verräter“

Wenn der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer die Geschichte rund um ELGA erzählt, dann verwendet er Beschreibungen wie „völliger Wahnsinn“ und „Krieg“. Der Gläserne Mensch ist dabei nur eine Randerscheinung.

Laut Ernest Pichlbauer geht es nicht um Datenmissbrauch und nicht um Patientensicherheit. Es geht auch nicht um einen Überwachungsapparat und schon gar nicht um gläserne Ärzte oder Patienten. „Es geht um Fehlinformationen und schlichtweg darum, dass ELGA von der Politik missbraucht wurde.“ Und infolgedessen sei ELGA von der Ärztekammer missbraucht worden, um sich für die Rechte der Ärzte einzusetzen. Worum es eigentlich ging, sei traurigerweise schon lange in Vergessenheit geraten.

Worum ging es eigentlich?

In den meisten vergleichbaren Ländern gibt es eine abgestufte Versorgung mit entsprechenden Versorgungregionen. Der Patient hat einen klaren Pfad durch das System vorgegeben: Hausarzt, Facharzt, Spital. In Österreich allerdings kann der Patient sehr viele Stellen ansteuern: Spitalsambulanzen, Wahlärzte, andere Ambulatorien oder Aufnahmestationen. „Das gibt es sehr selten, da sind wir so gut wie alleinstehend.“ Kennt der Arzt einen Patienten gut und weiß um dessen gewöhnliche Krankenhausaufenthalte, funktioniert das System. Ist der Patient aber einmal in einem anderen Krankenhaus, das keine Briefe an den Hausarzt verschickt, wird das System löchrig. „Es gibt nicht einmal einen einheitlichen Diagnose- und Leistungskatalog oder ein Behandlungsregister. Bei uns ist alles völlig zerfleddert.“ Deshalb bräuchten wir diese sehr große Lösung durch ELGA. Österreich sei da ein Spezialfall .

ELGA sollte eine Vereinfachung sein. Es ging ursprünglich darum, die Beschwerden der niedergelassenen Ärzte, also unbrauchbare Informationen aus den Spitälern und Ambulanzen, zu bereinigen. So waren die Ärzte oft gezwungen, jeden Patienten zu fragen, wo er war und was dort konkret unternommen wurde – ein sehr mühsamer Ablauf. Um das Problem zu lösen, wollte man die Spitäler quasi zwingen, standardisierte allzeit verfügbare Entlassungsbriefe zu formulieren. Das war der Plan von ELGA.

Und was ist daraus geworden?

Der größte Fehler habe darin gelegen, zu glauben oder zu behaupten, dass ELGA ein Instrument sei, dass außerhalb der Behandlungsebene für irgendjemanden relevant sei. „Die Versorgungsebene hat nichts von ELGA. Die Systemebene noch weniger. Die Einzigen, die etwas davon haben sollten, sind die Ärzte selbst, und das Ziel ist es, den Ärzten ein Informationsnetzwerk zur Verfügung zu stellen, damit der Datenaustausch leichter wird.“ Die ideale Folge: besser versorgte Patienten.

Aus dieser Idee sei allerdings eine Diskussion geworden, die sich auf Ebenen abspielt, die damit gar nichts zu tun haben sollten. Die gleichen Argumente, die heute fallen, sind schon vor Jahren aufgetaucht, als ELGA noch in ersten Gesprächen war. Ärztekammer versus Politik: „Da wurde ELGA zum Machtthema hochstilisiert. Es ging nur noch darum, die Patienten auf seine Seite zu holen, und um die Frage, wer die Patienten vertritt. Die beiden haben einfach einen Krieg geführt“, so Pichlbauer. Die Ärzte meinten, keiner sei besser für die Patienten da als sie, man bräuchte ELGA daher nicht. „Noch schlimmer wurde es, als die Politik begann, das mit Gegenargumenten zu füttern.“ Und schon hatte man eine durch Angst geschürte Debatte, die es nie geben hätte sollen. Es ging darum, was man mit ELGA alles anstellen könnte, und um die Sorge der Sicherheit der Patienten.

Kein Instrument der Patientensicherheit

„Es ist nicht Aufgabe von ELGA, Patientensicherheit herzustellen. Es kann eine höhere Patientensicherheit daraus entstehen, aber es ist nicht ihre Aufgabe. ELGA ist kein Instrument der Patientensicherheit. Eine gute medizinische Ausbildung oder genügend Zeit für Behandlungen, das sind Instrumente der Patientensicherheit, aber nicht ELGA.“

Beide Seiten hätten also versucht, die Patienten auf ihre Seite zu ziehen. Sie vor dem anderen zu schützen. Die Ärztekammer vor der bösen verstaatlichten Medizin. Die Politik vor der bösen Interessenvertretung Ärztekammer. Gegipfelt sei der Kampf in einer Kampagne des Hausärzteverbandes, wo auf Plakaten vor ELGA gewarnt wurde. „Das ist das Problem. Wenn Menschen, die am meisten davon profitieren würden, aussteigen, wird es richtig schlimm.“

Dann kam der unvermeidbare Stillstand. „Weil die Situation aufgepeitscht und aufgeheizt war. Und weil viele Fehlinformationen im Umlauf waren.“

Schlechte Kommunikation

Die ELGA GmbH habe eine bemerkenswert schlechte Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Die Konsequenzen waren die ständigen Angst-Diskussionen. „ELGA will keine Doppel-Befundungen reduzieren, auch wenn die Politiker das immer sagen.“ Es sei nie konkret kommuniziert worden, dass man einfach nur eine Infrastruktur für eine bessere Kommunikation der Ärzte bereitstellen wolle. Und dass man niemandem erlauben werde, Einsicht zu nehmen, außer dem Arzt und seinem Patienten.

Die Mediziner zweifelten immer wieder an, dass ELGA die Arbeit tatsächlich erleichtern würde. „Ärzte funktionieren wie der Homo Sociologicus . Damit sind sie ideale Soldaten. Befehlsempfänger pur. Das ist gut, weil sie empathisch an die Gemeinschaft denken. Aber in diesem Fall ist es ein Nachteil. Viele Ärzte glauben, ELGA ist nur teuer und dient einem Kontrollmechanismus, weil das so kolportiert wurde.“

Zudem hätte es nur einen ganz kleinen Kreis an Ärzten gegeben, der Einsicht in die geplanten ELGA-Formulare hatte. „Denen überlässt man dann die Interpretationshoheit. Diese Informationen wurden nie online gestellt. Die Mehrheit wusste nicht, wie das konkret aussehen soll. Das wurde nie breit kommuniziert. Und schließlich war das Thema vergiftet. Es wird wirklich schwer, den passiven Widerstand zu überwinden.“

Es gab Beschwerden darüber, dass ELGA eine Ansammlung von PDF-Dateien sei, ohne Suchfunktion. Und somit mühsam in der Handhabe für die Ärzte. Pichlbauer verweist auf die derzeitige Situation: Die Patienten haben meist einige Zettel dabei, wenn sie zum Arzt kommen. Unstrukturiert. Jetzt sind es dann digitalisierte PDFs. Da ist noch nicht viel Unterschied. „Ich hätte noch nicht gesehen, dass es eine Suchfunktion bei Zetteln gäbe“, scherzt Pichlbauer. Da habe sich also nichts geändert. „Die abgespeicherten PDFs werden aber standardisiert sein, dass heißt, es wird das Wesentliche immer an der gleichen Stelle stehen.“ Alleine dadurch sei das neue System viel besser. „Die Suchfunktion ist ja nur eine Frage der Zeit, lassen wir das System doch einmal arbeiten.“

Die Ängste der Ärzte

Dass die Ärzte Angst haben, auf ihre Fehler kontrolliert zu werden, ist für Pichlbauer nur ein Zeichen des Misstrauens und des Missbrauchs des Themas. „In dem Augenblick, wo die Versicherung in ELGA-Daten Einblick nimmt, hat ELGA seinen Wert tatsächlich verloren. Dann ist es vorbei. Das war aber nie der Plan. Das steht auch so im Gesetz. Nur der Patient und der Arzt haben Einsicht.“ Deshalb seien die ständigen Vergleiche mit der e-card erstens alles andere als hilfreich und zweitens nicht korrekt. Die e-card als Mittel zur Abrechnung sei etwas komplett anderes.

Nun gebe es aber – die vielleicht berechtigte – Angst von Ärzten, dass die Gesetze in ein paar Jahren geändert werden. „Die Versicherung kann und soll nicht einsehen, aber die Angst ist da.“ Hier geht es schließlich um eine lebenslänglich begleitende Maßnahme. Was ist, wenn in fünf Jahren das Gesetz geändert wird? Was, wenn die Versicherung zu Kontrollzwecken Einsicht bekommt? Das könne für Ärzte schädigend sein.

Vertrauen muss her

Dass die Zahl der Zugriffsberechtigten unüberschaubar sei, hält Pichlbauer für ein Märchen. „Sie ist es dann, wenn die Polizei von jedem die e-card einsammelt.“ Die Ordinationshilfen beispielsweise könnten heute auch schon Einsicht nehmen. Da erkenne er den Vorwurf des Datenmissbrauches nicht. Zudem speichere ELGA dezentral.

Aber selbst Pichlbauer, dem gerne unterstellt wird, er stünde auf der Gehaltsliste der ELGA GmbH, ist hin- und hergerissen. Vor allem das negative Klima der Diskussionspartner sieht er als Problem. Das Misstrauen müsse verschwinden. Es bräuchte dringend vertrauensbildende Maßnahmen. „Ich habe vor Jahren schon gesagt, man solle das System wieder einstampfen und neu aufsetzen. Mit neuer Kommunikation. Es gibt keinen politischen Gewinn.“

Natürlich gibt es Schattenseiten

Die Tatsache, dass die Ärztekammer vor ELGA Angst hat, werde zudem dazu führen, dass der Erfolg ausbleibt. Self-fulfilling Prophecy. Der ausbleibende Erfolg werde schließlich dazu führen, dass jemand Einsicht nimmt, um herauszufinden, warum dem so sei. „In diesem Augenblick ist es vorbei.“ Das kursierende Misstrauen könnte außerdem dazu führen, dass Freitext-Befunde aus Angst vor etwaigen Klagen nichts aussagen. Aus Vorsicht. Die Folge wären dann mehr Untersuchungen statt weniger.

Natürlich gebe es Schattenseiten. Pichlbauer spricht von einer Studie, die zeigt, dass mit ELGA gewisse Patienten tatsächlich schlechter versorgt sind. Nämlich schwerkranke Kinder, die komplexe Krankheitsverläufe haben. „Diese Gruppe lebt nach einer Studie mit ELGA schlechter und kürzer.“ Der Grund seien die fehlenden Redundanzschleifen durch ELGA. Je komplexer eine Krankheit, desto mehr Hebel müssen öfter und immer wieder kontrolliert werden. „ELGA ist für sehr viele Menschen sehr gut, aber es gibt auch diesen Punkt. Darüber höre ich aber keine Diskussion. Stattdessen reden wir darüber, ob man einen Hämorrhoiden-Eintrag aus ELGA streichen kann und über die Abmeldeformalitäten.“

Rund 220.000 Abmeldungen von ELGA wurden bisher registriert. Pichlbauer geht davon aus, dass es sich dabei eher um junge, kritische Geister handelt. „Die, die das System öfter in Anspruch nehmen, Ältere und chronisch Kranke, sind es leid, jedem Arzt alles erzählen zu müssen, die werden sich nicht abmelden“, ist Pichlbauer überzeugt.

Pichlbauer sieht die Kritikpunkte sehr wohl, ist aber sicher, dass die Vorteile durch ELGA für die Patienten spürbar werden. „Die Voraussetzung ist, dass wir erst mal so weit kommen, dass sich das System einarbeiten kann.“

Die Skepsis müsse verschwinden. Wir würden dann sehen, dass die Anamnesen schneller und verlässlicher werden. Die Ärzte hätten mehr Zeit für andere Dinge. Im Grunde seien die Diskussionen völliger Wahnsinn. „Wenn du für ELGA bist, bist du ein Verräter. Der damalige Ärztekammer-Präsident Walter Dorner hat den Krieg ausgerufen und damit leider viel vernichtet.“

Nun ist es aber so, dass die Diskussion um ELGA da steht, wo sie steht. Es wird schwierig, alle gefallenen Argumente und die bereits geschürten Ängste vergessen zu machen. Demnach muss man sich wohl trotzdem auf die ethische Debatte dazu einlassen. Und die beinhaltet die Angst vor dem Gläsernen Menschen. Auch Bioethiker Peter Kampits warnt davor. „Der Staat versucht ohnedies in jeder Hinsicht, uns zu durchleuchten.“ Das Misstrauen den Datenschutz betreffend sei verständlich. „Ich glaube, dass die Möglichkeit, diese Daten für andere Zwecke zu nutzen, sehr wohl besteht.“ Er warnt vor Diskriminierungen durch Einsicht in Krankengeschichten. Auch die Frage, wie Ärzte mit Fehldiagnosen von Kollegen umgehen, ist zu beachten. Das hänge natürlich vom jeweiligen Ethos des Arztes ab, ob er einen Kollegen infrage stellt. Für Kampits gerät die Arzt-Patienten-Beziehung, die immer mehr vom Computer geprägt sei, auf einen falschen Weg. „Wir wissen ja heute schon, dass der Arzt nur noch den Bildschirm und gar nicht mehr den Patienten betrachtet.“

Der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer spricht von insgesamt 200 Millionen Versorgungssituationen im Jahr, die ELGA in Zukunft erfassen können wird. Natürlich gebe es Fehler. „Wenn irgendjemand glaubt, dass er so ein komplexes System fehlerlos aufsetzen kann, dann soll er sich bitte zu Gott ausrufen lassen.“

Wir sollten uns beruhigen, meint Pichlbauer, die Fehler würde das System selbst bereinigen. Wenn man es nur ließe.

Beitrag auf NZZ.ch lesen (Dezember, 2015)

Kategorien:Geschichten

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