„Ihr müsst euch jetzt verabschieden“

Eine junge Frau klopft an die Türe des alten Landhauses. Ihre Miene ist wie versteinert. An der Hand hält sie ein dreijähriges blondes Mädchen, das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Die Tür geht auf und die Frau übergibt das Kind. Das war das letzte Mal, dass Anna ihre leibliche Mutter gesehen hat. Ihre Kindheit hat sie im Heim verbracht. Es sollten die schlimmsten Jahre in ihrem Leben werden.

Anna ist heute 31. Schlank, Sommersprossen, blaue Augen. Aus ihr ist eine attraktive Frau geworden. Sie lebt schon sehr lange in Wien, aber den Kärntner Dialekt ihrer Kindheit hat sie immer noch. An ihre ersten Lebensjahre in Feldkirchen kann Anna sich kaum erinnern. „Meine Mutter war psychisch krank. Eines Tages hat sie mich dann endgültig abgeliefert bei der Urgroßmutter. Sie ist gegangen und nicht mehr gekommen.“ An der Dreijährigen stellte man Anzeichen von Verwahrlosung fest. Sie ist kaum gewickelt worden, hatte Brandwunden am Körper. Von ausgedämpften Zigaretten. „Meine Mutter war überfordert mit der Situation und dachte, Papa und die Uroma machen das schon“, sagt Anna heute.

Die Urgroßmutter war damals schon zu alt, um die offizielle Obhut für sie zu übernehmen. Anna wurde schließlich nach Wien gebracht, wo ihr Vater und seine schwangere Lebensgefährtin gerade eine Wohnung bezogen haben.

Ein neues Zuhause

Eine Dreizimmerwohnung im 15. Bezirk in Wien ist ab nun ihr neues Zuhause. Paul, der Vater, ist selten präsent. Tagsüber arbeitet er viel und kommt spät nach Hause, wohl auch beabsichtigt, vermutet Anna heute. Daniela, Annas „Stiefmutter“, bringt bald einen Jungen zur Welt. „Damit hat es angefangen“, sagt Anna und setzt mit einem Satz fort, den sie schon einmal gesagt hat: „Sie war überfordert.“

Zwei kleine Kinder, der Partner nie zu Hause. Zwei Jahre lang leben die vier zusammen. Anna hat wenig schöne Erinnerungen an diese Zeit. „Ich habe Angst vor Daniela gehabt. Aber ich habe sie als Mutter akzeptiert, habe auch Mama zu ihr gesagt. Sie war ja immerhin da für mich. Und zu Weihnachten haben mein Bruder und ich immer gleich viele Geschenke bekommen“, sagt Anna und lacht.

Einmal ist Daniela mit dem kleinen Bruder einkaufen gegangen. Sie hat sich und das Baby angezogen, Anna war alleine im Kinderzimmer. Sie wollte mitgehen, doch als sie ins Vorzimmer kommt, ist die Türe zu, und die beiden sind schon weg. Daniela hat nicht auf Anna gewartet. „Ich bin dann in die Küche und hab mit einem kleinen Löffel Benco-Kakao genascht. Ich hab den Löffel wieder gewaschen und alles zurückgestellt, sodass man nichts bemerkt.“ Daniela hat es dennoch bemerkt. „Ich hab dann mit einem Holzkochlöffel Schläge bekommen, bis er abgebrochen ist. Ich konnte gefühlte zwei Wochen nicht sitzen.“

27 Jahre später wird Anna sagen, dass Daniela auch eine sehr schwierige Kindheit hatte und sie ihr verziehen hat.

„Ich wusste nicht, was passiert“

Als Anna an diesem Morgen von Daniela geweckt wird, weiß sie nicht, dass dies der schlimmste Tag in ihrem bisher sechsjährigen Leben sein sollte. Daniela läuft schon die ganze Zeit hektisch durch die Wohnung und packt eine Tasche zusammen.

Daniela spricht an diesem Tag kaum etwas mit Anna. Als sie alles fertig gepackt hat, nimmt sie die Kleine an der Hand. „Wir sind in den 10A eingestiegen. Ich wusste, irgendetwas stimmt nicht, hab sie die ganze Zeit gefragt, wo wir hinfahren. Heute glaube ich, dass sie es einfach nicht über die Lippen gebracht hat.“ Die beiden sitzen im Bus. Daniela ist stumm. Die kleine Anna spürt, dass gleich etwas passieren wird. Etwas, was sie lange Zeit nicht verstehen wird. Der Bus hält vor einem riesigen Gebäude, davor ein großes Eisentor. Sie gehen den Weg bis zum Portier, der sie in den zweiten Stock schickt. Daniela läutet dort an einer Türe. Ein Mann öffnet, er hat die beiden schon erwartet. Er bittet sie in die Wohnung. Anna erinnert sich an einen sehr langen Vorraum, auf der rechten Seite reihen sich Glasvitrinen aneinander, die mit kleinen Figuren gefüllt sind. Weiter hinten ist das Wohnzimmer, von dem drei Türen in verschiedene Schlafräume führen. Sie setzen sich an den Esstisch. Der Mann spricht mit Daniela. „Ich bin daneben gesessen und habe nichts verstanden. Gar nichts. Ich habe aber gewusst, um was es geht. Ich habe ab dem Moment, wo ich dieses Haus gesehen habe, gewusst, dass ich bleiben muss.“

Lesen Sie den ganzen Artikel auf NZZ.ch (Oktober, 2015)

 

Foto: Yvonne Widler

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