Mit Blaulicht durch die Nacht

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Rettungssanitäter sein, etwas Sinnvolles machen. Das wollen vor allem viele junge Menschen – neben dem Studium. Die meisten arbeiten jedoch freiwillig als Sani, da ein fixer Job in dieser Branche nicht leicht mit dem Studium vereinbar ist. Bei der Wiener Rettung gibt es momentan 460 Sanitäter – davon übrigens nur zwölf Frauen. Doch nicht wegen Mangel an Interesse, es scheitert meist an der körperlichen Eignung. Eine Nacht lang gewährt ein Rettungsteam Einblick ins aufregende Geschehen

Ein kalter verregneter Septemberabend, 19 Uhr. Die Nacht soll kalt werden. Im Aufenthaltsraum der Station Favoriten sitzt die weiß gekleidete 50-jährige Angelika Buchinger inmitten von jungen rot-uniformierten Männern. Es herrscht beinahe Wohnzimmeratmosphäre, als plötzlich ein Signal ertönt. Alle Blicke erheben sich zu dem Leuchtbalken über der Türe. „NEF, Einsatz!“ Blitzschnell laufen wir die Stiegen hinunter in die Garage. NEF, das Notarzteinsatzfahrzeug, steht für uns bereit. Ronald Packert von der Wiener Rettung und ich nehmen hinten im Wagen Platz, die Ärztin und ein Rettungssanitäter sitzen vorne. Mit Blaulicht düsen wir los.

Kaum im Wagen zückt Angelika Buchinger das so genannte toughbook, eine Art Laptop, wo die wichtigsten Informationen über den aktuellen Einsatz festgehalten werden. „Ältere Dame, Schmerzen in der Brust, Blutzuckerwert bei 480 und uneinsichtig.“ Wir fahren über rote Ampeln, weichen auf Straßenbahnschienen aus, die Reifen des Wagens drehen ab und zu durch. Die Autos machen überraschend schnell Platz und es vergehen keine sieben Minuten, bis wir am Einsatzort angelangt sind. „Wir können innerhalb von zehn Minuten an jedem Ort in Wien sein“, sagt Packert. Darauf ist er sichtlich stolz. Wir springen aus dem Wagen, der Sanitäter schnallt sich seinen 15 kg schweren Rettungskoffer samt EKG-Gerät um. Wir laufen in den dritten Stock hinauf. Die ältere Dame sitzt im Wohnzimmer. „So viele Leute, nur wegen mir!“ Auch ich habe eine rote Uniform bekommen – um die Patienten nicht zu verunsichern. Angelika Buchinger kniet sich vor die Dame und untersucht sie. „Es wäre besser, wenn Sie mitkommen, ich kann Sie aber nicht zwingen.“ Doch die Dame möchte auf keinen Fall ins Krankenhaus und so verlassen wir den Einsatzort wieder und fahren zurück auf die Station. Auf dem Rückweg hat Angelika Buchinger wieder das toughbook auf dem Schoß und tippt. Die vierfache Mutter wollte eigentlich Kinderärztin werden, doch es ist anders gekommen. „Vor allem nachts arbeite ich gerne. Da habe ich das Gefühl, alle schlafen und wir passen auf sie auf.“

Der Nachtdienst ist anders

Draußen wird es dünkler. Wieder sitzen wir im Aufenthaltsraum. „Normalerweise habe ich pro Nachtdienst mindestens eine Reanimation.“ Mir wird etwas mulmig. Angelika Buchinger streicht sich die dunklen, kinnlangen Haare zur Seite und richtet sich die Brille. „Der Job ist immer eine Herausforderung. Natürlich weiß man genau, was bei einem Herzinfarkt und was bei einer Hirnblutung zu tun ist. Wir kommen aber zu den Menschen nach Hause, dringen also in ihren Intimbereich ein. Oft muss man die Menschen nur beruhigen und wenig medizinische Intervention vornehmen.“ Der Unterschied zum Tagdienst liegt für Buchinger in der Art der Einsätze. „In der Nacht handelt es sich eher um interne Dinge, wie Herzinsuffizienz, Atemnot, Schlaganfall, ältere Menschen, die nicht weiter wissen, Herz-Kreislaufstillstand, aber auch Selbstmorde. Die Verkehrsunfälle gehören eher dem Tagdienst.“ Sie lässt sich in die braune Ledercouch im Aufenthaltsraum fallen.

Im Ernstfall hat man zehn Minuten

Wolfgang Amesmann ist hier in Favoriten Stationsleiter. Er ist seit 22 Jahren bei der Wiener Rettung und hat schon einiges gesehen und erlebt. „Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand sinken die Überlebenschancen pro Minute um zehn Prozent, wenn nicht reanimiert wird.“ Das heißt, man hat zehn Minuten. Deswegen ist es auch so wichtig, dass die Menschen vor Ort schon mit der Reanimation beginnen. Die Rettung zu rufen, reicht also nicht. Eine Mund-zu-Mund-Beatmung muss nicht sein. „Herzmassage reicht aus.“

22 Uhr. Das Signal ertönt. Ich versuche, einen Blick auf das toughbook zu erhaschen: „Ältere Dame, ganz allein, Herzstechen, Verdacht auf …“,  mehr kann ich nicht lesen. Zwei Wägen rasen mit Blaulicht und Sirene durch den zehnten Bezirk. Die ältere Dame ist verängstigt und verunsichert. Sie zittert am ganzen Körper. Angelika Buchinger schafft es, sie in kürzester Zeit zu beruhigen und zu stabilisieren. Die Dame muss nicht ins Krankenhaus. Der junge Rettungssanitäter Thomas bleibt noch kurz bei ihr und erklärt ihr, was der Ausdruck des EKG bedeutet und wie die Situation zu bewerten ist. Dann fahren wir zurück in die Station.

„Vorsicht, Nadel!“

Mitternacht. Dieses Mal fahre ich im großen Rettungswagen mit und nehme hinten neben der Krankenliege Platz. „Anschnallen!“ Wir finden einen 57-jährigen Mann, der wie Thomas meint, „bewusstseinsbeeinträchtigt“ hinter einem Busch auf dem Boden liegt. Ohne Jacke – nur blaue Jeans und einen lila Pullover. Alkoholvergiftung. Die Rettungssanitäter testen, ob er ansprechbar ist und versuchen, ihn aufzurichten. Erfolglos. Er muss ins Krankenhaus gebracht werden. Die Liege wird geholt. Die Reflektoren an den Uniformen der Rettungssanitäter erstrahlen in der Nacht so hell, als wären sie Engel. Als der Mann im Rettungswagen liegt, wird er umgehend versorgt. Alles geht rasend schnell. „Vorsicht, Nadel!“ Thomas schreit und alle machen, soweit es der Platz im Wagen zulässt, einen hastigen Schritt zur Seite. In der rechten Hand hält er eine verwendete Nadel, die er ganz weit hochgehoben ans andere Ende des Wagens bringt und dort in eine kleine gelbe Box wirft, danach zieht er seine Plastikhandschuhe aus und wirft auch diese weg. Er zieht sich sofort neue an. Auch ich muss solche Handschuhe tragen. „Wie lang liegen Sie schon da?“ Der Mann versucht seinen Blick auf den Sanitäter zu richten. „Ich glaub, seit neun Uhr ungefähr. Drei, vier Leute sind eh schon vorbeigegangen, haben mir aber nicht geholfen.“ Er wendet seinen Blick zur Seite und sagt: „Ich Oaschloch, ich.“

Der Umgang ist in letzter Zeit rauer geworden. „Einem Sanitäter wurde einmal ein Finger abgebissen“, erzählt Thomas. Die Zahl verunglückter Fahrradfahrer ist gestiegen. „Fahrradfahrer sind die neuen Organspender, die haben die Motorradfahrer längst überholt“, so Amesmann. Doch wie geht man mit all dem um? „Es ist ganz wichtig, sich abzugrenzen. Letztens wusste ich, wir fahren zu einem herabgestürzten Kind. Da ist man natürlich schon nervös, aber ich weiß, wenn ich vor Ort bin, funktioniere ich. Wichtig ist auch, dass man die Einsätze nachher im Team bespricht, zur Verarbeitung. Belastend sind weniger die großen Dramen, sondern die Hilflosigkeit der Menschen“, sagt Buchinger. „Wenn nichts zu machen ist, dann ist es halt so. Wir bestimmen nicht, welche Chancen sie haben. Aber die Chancen, die sie haben, kann ich ihnen geben.“

„Durch den Job habe ich weniger Angst vor dem Tod“

„Wenn ich reanimiere, lasse ich die Angehörigen immer dabei sein und schicke sie nicht ins Nebenzimmer.“ Die Ärztin blickt nachdenklich zu Boden. „Wenn jemand verstirbt, dann sag ich den Angehörigen das unverzüglich und ohne Umschreibungen. Ich habe das Gefühl, dass das Sterben für den, der stirbt nichts Schlimmes ist. Wenn der Punkt da ist, findet jeder seinen Frieden, das kommt mir immer so vor. Durch den Job habe ich weniger Angst vor dem Tod.“ Sie blickt erneut zu Boden.

Die Wiener Rettung fährt rund 165.000 Einsätze pro Jahr. „Bei jedem von uns gibt es ein, zwei Einsätze, die in Erinnerung bleiben, weil sie so dramatisch waren. Fälle, wo psychische Akutbetreuung notwendig war“, sagt Amesmann. Kurz ist Stille im Aufenthaltsraum. Ronald Packert durchbricht die Stille und erinnert sich an seine Anfangszeiten: „Ich habe, wie ganz viele bei uns und in allen anderen Rettungsdiensten und auch wie die meisten Studenten, beim Bundesheer Sanitäter gemacht. Viele haben auch Zivi beim Roten Kreuz oder beim Samariterbund gemacht. Da mir das sehr gefallen hat und ich finde, dass jeder seinen sozialen und gesellschaftlichen Beitrag leisten sollte, dann freiwillig in meiner Studienzeit weiterhin Dienste und Fortbildungen besucht. Das Wissen, im Notfall helfen zu können, unterstützen zu können, wenn es um Leben und Tod geht, das ist wirklich wichtig. Das war immer meine Motivation und bringt mir heute noch ein gutes Gefühl. Neben dem Studium ist es vor allem eine Einteilungssache. Oft ging sich nur ein Dienst die Woche aus, am Tag oder in der Nacht. Ich habe lieber nachts gearbeitet, denn da konnte man auch ein bisschen schlafen und war so am nächsten Tag halbwegs fit für die Uni. Heute ist es jedoch so, dass viele, die bei uns hauptberuflich tätig sind, nebenbei auch noch studieren!“ Unzählige Studenten arbeiten nebenbei bei befreundeten Organisationen freiwillig und absolvieren auch dort den Basiskurs zum Rettungssanitäter. „Wir sind sehr beliebt bei Studenten, viele finden den Weg zu uns, wobei dies eher für die Freiwilligen gilt. Fix als Nebenjob ist es sehr schwierig, weil man in dem Dienstrad drinnen ist und da gibt’s nicht viel Spielraum“, so Andreas Zenker vom Roten Kreuz.

Es ist schon spät. Geli, wie sie hier genannt wird, legt sich hin. Vielleicht passiert noch etwas, vielleicht auch nicht. Später wird Angelika Buchinger sagen, dass es eine ruhige Nacht war.

Info: 1881 kam es im Wiener Ringtheater zu einer Brandkatastrophe. Fast 400 Menschen starben bei dem Feuer. Dies war der Anstoß zur Gründung der Wiener Freiwilligen Rettungsgesellschaft und aus ihr entwuchs die heutige Wiener Rettung 144.

(Falter 40/12 – DURST)

Kategorien:Reportage

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