Sie ist eines der heikelsten Themen unserer Gesellschaft: Die Kindesabnahme. Der Staat sieht sich immer wieder mit Vorwürfen konfrontiert. Jana Baumgartner und Dunja Gharwal arbeiten für das Wiener Jugendamt und geben Einblicke in einen Alltag, den man sich kaum vorstellen kann.
Die Namen der toten Kinder kennt ganz Österreich. Luca-Elias, 17 Monate alt, misshandelt und missbraucht vom Stiefvater. Amanda, 15 Monate alt, durch Schläge auf den Kopf so schwer verletzt, dass das Baby im Krankenhaus starb. Melvin, zwei Jahre alt, tödlich in der Badewanne verbrüht vom Stiefvater. Cain, drei Jahre alt, totgeschlagen vom Lebensgefährten der Mutter.
In all diesen Fällen kannte das Jugendamt die Familien. Doch während die einen den Behörden vorwerfen, sie würden oft zu lange warten und dadurch das Schicksal solcher Kinder besiegeln, prangern die anderen Willkür und zu schnelles Auseinanderreißen von Familien an. Im Jahr 2014 erschien das berüchtigte „Schwarzbuch der Jugendwohlfahrt“. Die Autoren rechnen mit den Beamten ab und zeigen anhand von 67 Fällen katastrophale Kindesabnahmen und ihre Folgen auf. Von Seelenmord und Menschenrechtsverletzungen ist da die Rede. Die Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits ließ die Kritik nur bedingt gelten, räumte aber ein, dass schlichtweg mehr Personal benötigt wird. Sie führte Wien allerdings als positives Beispiel an.
Das Wiener Jugendamt und wie es arbeitet
„Wir können nicht in die Zukunft schauen“, sagt Dunja Gharwal, die seit 1998 als Sozialarbeiterin tätig ist. Ihre jüngere Kollegin Jana Baumgartner nickt. „Wir können nicht vorhersagen, was passieren wird. Wir dürfen nicht alle Kinder abnehmen, wo sich etwas abzeichnen könnte.“ Die beiden Frauen arbeiten für das Wiener Jugendamt. Gharwal in der Zentrale im dritten Bezirk und Baumgartner in der Simmeringer Regionalstelle. Sie wissen um die immer wieder kehrenden Vorwürfe. „Über die verhinderten Unglücke spricht man auch selten“, sagt Gharwal.
Gharwal und Baumgartner haben Dinge gesehen, die wir uns nicht einmal vorstellen wollen. Manchmal müssen sie innerhalb von Sekunden entscheiden, was besser für ein Kind ist: bei der Familie zu bleiben oder rasch in Obsorge genommen zu werden. „Vor allem, wenn wir die Familie noch nicht kennen, ist das eine der schwierigsten Situationen“, sagt Baumgartner. Aber auch eine der seltensten. Denn solche Akutsituationen seien nicht die Norm.
Kein Trauma mehr
Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Kindesabnahmen. Jene, die spontan entschieden werden müssen, und die geplanten, die detailliert vorbereitet werden. Erste sind eine große Herausforderung für die Sozialarbeiter. In sehr kurzer Zeit müssen sie sich ein Gesamtbild der Situation verschaffen. Doch die Vorstellung, die manche noch im Kopf hätten, dass ein Kind zuhause den Eltern aus den Armen gerissen wird, die sei falsch. Oberstes Prinzip sei es, das Kind so wenig wie möglich zusätzlich zu traumatisieren.
Wird die Polizei beispielsweise von Nachbarn gerufen, weil nebenan laut gestritten oder Kinderweinen zu hören sei, so entscheide diese zunächst vor Ort. Eines der meist genützten Instrumente der De-eskalierung ist dann die Wegweisung eines Elternteils inklusive Betretungsverbot. Das Kind kann so zuhause bleiben. „Sind Kinder involviert unterrichtet die Polizei generell immer das Jugendamt, wir sehen uns die Situation dann genauer an“, sagt Baumgartner. „Aber für eine Kindesabnahme braucht es weit mehr als Streit zwischen den Eltern.“ Sollte jedoch in einer Akutsituation, wenn beispielsweise beide Eltern geistig weggetreten sind oder gar nicht ansprechbar, eine Wegweisung nicht infrage kommen, bringt die Polizei das Kind in eines der Krisenzentren, die rund um die Uhr geöffnet haben. Dann übernimmt das Jugendamt den Fall.
Am häufigsten jedoch bereiten Gharwal und Baumgartner die Kindesabnahmen akribisch vor. Wie viele sie schon durchführen mussten oder begleitend dabei waren, das wissen sie nicht mehr. Österreichweit leben rund 11.000 Kinder derzeit nicht in ihren Familien, sondern wurden vom Jugendamt fremduntergebracht. „Nichts wird dem Zufall überlassen, wenn wir eine Abnahme planen“, sagt Baumgartner. Das Krisenzentrum bereitet sich schon im Vorfeld auf den individuellen Alltag des Kindes vor: Fahrtendienste, Therapien, Medikamente, sonstige Bedürfnisse.
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