Dass Deutsch der Schlüssel zu Integration in Österreich ist, dem widersprechen nur wenige. Trotzdem kann man hinterfragen, warum das eigentlich so ist und ob die entsprechenden Empfehlungen von Sebastian Kurz tatsächlich der beste Weg zur Eingliederung in die heimische Gesellschaft sind.
Dogmatisch zieht sich ein Begriff durch die Integrationsdebatte: Sprachförderung. Sebastian Kurz hat 50 Empfehlungen präsentiert, die der Eingliederung dienlich sein sollen. Der Mann, der ihm dabei mit Rat zur Seite gestanden hat, ist Heinz Fassmann. Er hat den zwölfköpfigen Expertenrat, der die 50 Punkte formuliert hat, geleitet. Der Vizerektor der Universität Wien beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Integrations- und Migrationsforschung. „Es ist notwendig, Deutsch zu können, um auf dem Arbeitsmarkt zu reüssieren und einen einigermaßen gut bezahlten Job zu bekommen. Das ist nicht österreichspezifisch“, sagt er.
Angesprochen auf beispielsweise die Multikulti-Metropole New York winkt er ab. Auch dort könnten Migranten in der Regel Englisch sprechen. Und das gleiche sei auch in Österreich oder in Deutschland notwendig. „Oder wir sagen: Okay, sie sollen auf dem Arbeitsmarkt nur an den Rändern sein, also marginale Positionen annehmen. Aber das kann nicht das Ziel sein.“
Nur keine Abschottung
In diesem Zusammenhang besteht oft die Angst vor der Entwicklung von Parallelgesellschaften, die sich vor allem durch den Nichterwerb der deutschen Sprache bilden. Ethnische Communities haben eine wichtige Funktion, sie sind eine gesellschaftliche Ressource für die Zuwanderer. Sie schaffen Heimat in der Fremde, Sicherheit, und sie entfalten eine Vermittlungs- und Informationstätigkeit. Dem widerspricht Fassmann keineswegs, aber mit dem Begriff Parallelgesellschaft meine man meist die Abschottung. „Da bin ich kein Freund davon. Wie auch immer wir Integration verstehen, es geht de facto um gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt, der geschaffen werden muss. Aber wenn sich eine Gesellschaft fragmentiert, in lauter unterschiedliche Parallelgesellschaften, die nicht miteinander interagieren, dann haben wir keine Kohäsion erreicht, was sicherlich nicht vorteilhaft ist.“
Gerade New York wäre ein schönes Beispiel dafür, wie die Sache funktionieren kann. „Neben aller Parallelität der ethnischen Communities gibt es dort ein unglaublich starkes Gefühl, dass man ein New Yorker ist.“ Das Multikulti-Gefühl werde dort durch ein vereinheitlichendes Identitätsgefühl überlagert.
Ich bin ein Amerikaner, die Fahne ist mir sehr viel wert.
Das sei Teil der US-amerikanischen Kultur, die so funktioniert: Jeder kann kommen, Sozialleistungen gibt es für niemanden, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Jeder kann in seiner Community verharren und muss nicht raus. „Aber wichtig sind unsere Verfassung, unsere Fahne, unser Patriotismus.“
Warum ist das in Wien nicht denkbar?
„Ich glaube nicht, dass wir diese Form des Patriotismus mit unserer spezifischen Vergangenheit, die auch durch den übersteigerten Nationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gekennzeichnet ist, in dieser neuen Form des Patriotismus aufleben lassen sollten.“ Fassmann denkt auch nicht, dass wir das hierzulande könnten. Ein bisschen sei nicht schädlich, wohl aber in dieser intensiven Art und Weise. Dahingehend bräuchten wir für Österreich sicherlich neue identitätsstiftende Leitbilder. Dazu zählt nicht nur Kontinuität der Siedlungsgeschichte, sondern auch das Zu- und Abwandern der Bevölkerung. „Das sollte man nicht ausblenden. Wir gedenken nicht dieser Art der Geschichte. Das Fremde sollte aber Teil des nationalen Narrativs sein“, so Fassmann.
Wir sollten in Österreich nicht lauter kleine ethnische Enklaven vorfinden, die beispielsweise nur syrische Zeitungen lesen, meint er. Wir sollten diese Menschen in die Gesellschaft hineinbringen, an den Bürgerprozessen teilnehmen lassen. Sie sollten unsere Zeitungen lesen können.
Deutsch als Schlüssel
Es gehe natürlich in erster Linie darum, Zugewanderte vermittlungsfähig für den Arbeitsmarkt zu machen. Gerade bei Asylberechtigten ist für Fassmann die ganz entscheidende Frage: Wie rasch kann es gelingen, sie in der bezahlten Erwerbstätigkeit unterzubringen?
Das sei wichtig, um der Bevölkerung zu signalisieren, dass diese Asylberechtigten nicht nur ein sozialpolitischer Geldbezieher sind, nicht nur Last, sondern Personen, die in relativ kurzer Zeit eine „nicht transferabhängige Existenz“ in Österreich beginnen können. „Wenn wir das nämlich nicht sehen, dann haben wir in kurzer Zeit eine sozialpolitische Verteilungsdiskussion. Die möchte ich nicht gerne in Österreich haben, denn ich weiß, was dann parteipolitisch die Konsequenz wäre.“
Man brauche die Kommunikationstüchtigkeit in der jeweiligen Landessprache. „Bei aller Wertschätzung für Mehrsprachigkeit, aber das muss man zur Kenntnis nehmen“, so Fassmann.
Integrationsprozesse sind komplexe Vorgänge und hängen von vielen Faktoren ab. „Es ist für die Politik aber keine große Hilfe, wenn man darauf hinweist, man muss der Politik schon klar sagen, was sie tun soll und klare Prioritäten aussprechen.“
Andere Sprachen sind wichtig
Wie konkret und klar die ausgesprochenen Empfehlungen tatsächlich sind, hat NZZ.at bereits hinterfragt. Aber auch die Expertin für Deutsch als Zweitsprache, Inci Dirim vom Institut für Germanistik an der Universität Wien, sieht bei einigen der Punkte noch Aufholbedarf.
Damit Zuwanderer in Österreich handlungsfähig werden, ihre Ziele verfolgen können, sei es natürlich wichtig, dass sie Deutsch sprechen. Dem widerspricht sie nicht. Aber das heiße nicht gleichzeitig, dass andere Sprachen unwichtig wären. Deshalb macht sie auf die Rahmenbedingungen aufmerksam.
„Ich würde auch nicht sagen, dass ‚German only‘ in jedem Bereich die beste Lösung ist. Gerade im Bildungsbereich hat sich durch Studien gezeigt, dass es für Schüler, die mit verschiedenen Sprachen eingeschult werden und ausgebaute Kenntnisse in anderen Sprachen besitzen, wichtig ist, dass diese Sprachen, die sie mitbringen, auch genützt werden.“ Man dürfe nicht vergessen, dass diese Kinder in einer anderen Sprache einen wichtigen Zugang zu Bildung besitzen. Man sollte nicht so tun, als gäbe es diese Sprachen nicht.
Sprachwissenschaftlich spielen hier drei Konzepte eine Rolle:
- Das additive Konzept meint zusätzliche Deutschförderung mit sofortiger schrittweiser Eingliederung in Regelklassen.
- Die integrative Förderung verfolgt das Konzept der „Sprache im Fach“. Wie können etwa Mathematik-Lehrkräfte berücksichtigen, dass manche ein anderes Deutschniveau haben als das erwartete?
- Das Konzept der durchgängigen Sprachbildung, das in Hamburg entwickelt wurde, ist ein sehr breites und bezieht beispielsweise Jugendeinrichtungen oder Bibliotheken mit ein.
Für Dirim wäre es sinnvoll, wenn die Deutsch-Studierenden hierzulande mehr über diese Konzepte erfahren würden, denn derzeit sei das in Österreich nicht der Fall. „Derartige Inhalte gibt es an der Universität Wien. Österreichweit ist das entsprechende Angebot nicht ausreichend.“ Aus ihrer Erfahrung weiß sie, dass die meisten Lehrkräfte diese Konzepte in der Ausbildung nicht kennengelernt haben. Außer sie haben sich privat weitergebildet.
Forschungen aus Deutschland hätten zudem gezeigt, dass integrative Sprachförderung besser sei als additive. „Das heißt, wir müssen unsere Lehrkräfte dementsprechend qualifizieren.“ Dass pensionierte Lehrkräfte eingesetzt werden, sei prinzipiell gut, „aber nur, wenn sie die notwendigen Kenntnisse besitzen. Wenn nicht, hat es wenig Sinn.“ Den Mathematikunterricht würde man schließlich auch nicht von irgendeiner Lehrkraft machen lassen, das wäre ein Skandal. „Ich als Fachvertreterin würde es ebenso als Skandal empfinden, wenn hier nicht qualifiziertes Personal eingesetzt würde.“
Eltern sind keine Lehrer
Betreffend die Vorschläge für Kindergartenkinder sollte man aufpassen, dass auf die Jüngsten nicht zu viel Druck ausgeübt wird. „Ich habe nichts gegen zwei Jahre Kindergarten, das ist sicher gut. Aber nur, wenn die Pädagogen auch dementsprechend ausgebildet werden.“ Wichtig sei vor allem die Sprachförderung in der Schule.
In den Empfehlungen ist die Rede davon, dass die Deutschkenntnisse der Mutter von großer Bedeutung für die Bildungskarrieren der Kinder sind. Dirim sieht das nicht so. „Die Eltern müssen kein Deutsch können. Es ist hilfreich, aber nicht nötig. Kinder müssen in der Bildungssprache fünf bis acht Jahre begleitet werden – von qualifiziertem Personal.“ Eltern seien keine Lehrkräfte.
Kinder befinden sich zudem immer im Alltag in Situationen, wo der Spracherwerb nicht gesteuert wird. Hinzu kommt dann die institutionelle Bildung. „Denn ohne explizite Unterstützung besteht die Gefahr, dass sie nicht den Sprung zur Bildungssprache schaffen.“
Dirim erzählt von einem Beispiel aus Hamburg. Dort gibt es sogenannte Sprachlernkoordinatoren. Das sind Lehrkräfte, die zum Thema Sprachförderung fortgebildet wurden. „Das ist ein sehr gut durchdachtes System, das ich für Österreich anraten würde.“ Dazu müsste man natürlich eine gewisse Autonomie für Lehrkräfte schaffen und jeweils eine Person pro Schule dementsprechend ausbilden und für diese Stunden vom Regelunterricht entheben.
Es braucht integrative Förderung
Was den Vorschlag zu Sommerkursen oder etwaigen additiven Angeboten jenseits des normalen Unterrichtes betrifft, ist sie skeptisch. „Eine Deutschförderung, die mit dem Regelunterricht nichts zu tun hat, ist nicht so erfolgreich wie eine, die sich auf den Unterricht bezieht.“ Sommerferienkurse sind in Niedersachsen untersucht worden. In der Schule müsse daran aber angeknüpft werden, sonst brächten sie weniger. Man brauche in jedem Fall integrative Förderung, und zwar in jedem Unterrichtsfach.
„Wir haben hier ein Dilemma, ein Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite müssen wir sofort handeln, aber natürlich können nicht alle Lehrkräfte das entsprechende Masterangebot der Uni Wien besuchen. Es gibt bestimmte Professionalisierungsbereiche, für die man aber ein Studium braucht. Wir haben ein Problem, dessen Lösung ich nicht so leicht sehe. Jeder sollte sich bewusst sein, dass kurze, schnelle Fortbildungen ein Studium nicht ersetzen können.“
Dirim ärgert das Wort „verpflichtend“, das sich in den Empfehlungen zur Sprachförderung findet. „Da sticht ein Misstrauen heraus. Es klingt, als würden die Betroffenen nicht Deutsch lernen wollen, obwohl meist das Gegenteil der Fall ist.“
Das bestätigt auch Mario Rieder, Geschäftsführer der VHS Wien, die in Sachen Sprachförderung der größte Anbieter und in Kooperation mit der Stadt Wien auch Drehscheibe für viele Maßnahmen sind. „Das Problem ist eher, dass wir zu viele Menschen haben, die Deutsch lernen wollen. Der Staat muss hier nun handeln.“
Steigende Nachfrage
In den Deutschkursen an den Volkshochschulen fängt man ganz klein an. Mit authentischen Texten. Mit Fertigkeiten wie Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben. Von Beginn an wird in den Kursen Deutsch geredet. Die Schüler werden durchmischt, das habe sich als positiv herausgestellt. „Es funktioniert gut und ist ja keine neue Herausforderung. Für die Trainer haben wir spezielle Ausbildungen entwickelt“, so Rieder. In den Anfängerkursen wird keine Unterscheidung getroffen. Das sei bei diesem Niveau auch noch nicht relevant, erst später konzentriert man sich auf fachbezogenes und berufsbezogenes Deutsch. „Das ist eines der Vorhaben für die nächsten zwei Jahre“, so Rieder. Was aber natürlich gestiegen ist, ist die Nachfrage nach den Deutschkursen. „Wir waren mit vielen Notlösungen konfrontiert, aber nun wollen wir ein System schaffen, weg vom Improvisieren.“
Auch für Rieder ist der Arbeitsmarkt die zentrale Frage. „Da haben wir eine Kluft. Asylwerber dürfen vom AMS nicht als Zielgruppe bearbeitet werden, da vergeht viel Zeit.“
Es gebe Unternehmen, die gerne Praktika vergeben würden, sie dürften aber nicht, wegen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes. „Da ist unser Arbeitsmarkt sehr unflexibel, das wäre aber lösbar“, so Rieder.
Strenger Blick auf den Kurz-Integrationsplan
Die Schwierigkeit sei, dass es in Wien zwar politischer Wille und politisch kommuniziert ist, sowohl die Erst- als auch die Zweitsprache zu fördern. „Wenn man aber das Papier von Kurz liest, dann fehlt die Mehrsprachigkeit. Das ist ein Grundproblem in der Herangehensweise des Bundes, dass die Erkenntnisse der Sprachwissenschaft der letzten zehn, 15 Jahre offensichtlich schlecht rezipiert wurden “, meint Stefan Jagsch, Koordinator Asyl und Migration der VHS. Das führe dazu, dass die Förderung, die notwendig wäre, einfach nicht passiert. Dass viele Forderungen angeführt würden, die entweder im Einzelnen bereits in Umsetzung sind, wo es die Expertise schon seit langem gibt, oder solche, die gänzlich fehlen.
Viele der Punkte seien an Sebastian Kurz selbst gerichtet und von ihm umzusetzen, insbesondere die Finanzierung und die Aufgabe, Plätze bereitzustellen – österreichweit. „Da ist Deutschland viel weiter. Unser Nachbarland wird von Sebastian Kurz auch gerne als Beispiel genannt, da wäre es gut, auch tatsächlich mal hinzusehen.“
Mit Start Wien gebe es beispielsweise eine bereits funktionierende Begleitung für Asylwerber. Rieder rät, nicht immer das Rad neu zu erfinden, sondern bereits Vorhandenes weiterzuentwickeln. Die wesentliche Herausforderung sei die österreichweite Flächendeckung.
Auch Rieder stößt sich am Begriff der „Verpflichtung“. Er würde die Falschen treffen und weder dem Selbstverständnis der VHS noch der Realität der Lernenden entsprechen. Zwang und Beschränkung von Sozialleistungen bei Nichtteilnahme würde er nicht empfehlen. Das ginge auf Kosten von ohnehin schon benachteiligten Gruppen und sei auch für die jeweilige Lernbiografie alles andere als förderlich. „Die Menschen, die zu uns kommen, insbesondere die, die wenig Schulerfahrung haben, freuen sich wahnsinnig, dass sie jetzt endlich in die Schule gehen dürfen“, erzählt Karin Bittner, Leiterin Jugendbildungszentrum an der VHS Ottakring.
Die Sprachwissenschaftlerin Dirim vermisst in den Vorschlägen die detaillierte Vorgehensweise an den Schulen. „Es wirkt ein bisschen oberflächlich, aber prinzipiell sind es gute Ansätze. Mir fehlen integrative Ideen und konkrete Umsetzungspläne sowie entsprechende Organisationsmodelle.“
Heinz Fassmann und sein Expertenrat haben eine breite Palette von möglichen Maßnahmen erarbeitet. Jetzt beginnt der harte Prozess, die politische Umsetzung. Fassmann: „Das sind keine ausschließlich neuen Punkte. Die werden ja schon lange diskutiert. Manche davon sind jetzt endlich in der Politik angelangt.“
Beitrag auf NZZ.ch (Dezember, 2015)
Kategorien:Analyse